Der Bau- und Immobiliensektor steht vor einer Zeitenwende – und Steffen Szeidl fordert nichts Geringeres als einen radikalen Perspektivwechsel. Auf dem Wohnungsbaupolitischen Kongress in Hannover sprach der Vorstand des Beratungsunternehmens Drees & Sommer SE über Verantwortung, Kreislaufdenken und die Rolle des Menschen im fragilen System Erde.
„Die Erde kann ganz gut ohne uns leben. Wir kommen ohne die Erde nicht aus“, sagte Szeidl gleich zu Beginn. Sein Appell: Die Bauwirtschaft müsse endlich begreifen, dass Ökologie, Gesellschaft und Wirtschaft nicht getrennt, sondern aufeinander angewiesen sind.
Szeidl erinnerte daran, dass die Bauwirtschaft rund 40 Prozent der CO₂-Emissionen verursacht – und zugleich enormes Potenzial in sich trägt. „20 Milliarden Tonnen Baumaterial sind in den deutschen Gebäudebestand verbaut. Das ist eine Mine, die uns zur Verfügung steht.“
Anstatt immer neue Rohstoffe zu verbrauchen, müsse die Branche das nutzen, was bereits vorhanden ist. „Cradle to Cradle“, also die Wiederverwendung von Baumaterialien in geschlossenen Kreisläufen, sei der Weg in eine nachhaltige Zukunft.
Das Prinzip des Lebenszyklusdenkens prägt auch die Projekte von Drees & Sommer – etwa das klimaneutrale Bürogebäude EDGE ElbSide Hamburg oder die Erweiterung des UN-Campus in Bonn, die beide auf zirkuläre Materialien und energieeffiziente Systeme setzen.
„Wohnen ist ein Menschenrecht“, betonte Szeidl mit Nachdruck. Studien zeigten, dass Wohnungslosigkeit den Staat auf lange Sicht teurer komme als sozialer Wohnungsbau. Trotzdem entstehe vielerorts der falsche Wohnraum: „Wir bauen die falschen Wohnungen“, so Szeidl.
Er plädierte dafür, stärker den Bestand zu aktivieren, statt nur auf Neubau zu setzen – durch Umbauten, Nachverdichtung und flexiblere Grundrisse. Auch die soziale Dimension dürfe nicht aus dem Blick geraten: bezahlbare Wohnungen für alle Generationen seien eine Investition in gesellschaftliche Stabilität.
Zu viele Normen, zu wenig Mut
Ein weiteres Problem: Bürokratie und Überregulierung. Die Zahl der Baunormen in Deutschland sei in den vergangenen 20 Jahren von 5.000 auf 20.000 gestiegen. „Wir müssen die Standards, die sich so eingebürgert haben, hinterfragen“, forderte Szeidl.
Als Impuls nannte er den sogenannten Gebäudetyp E – „E“ für einfach und experimentell. Damit sollen Pilotprojekte möglich werden, in denen neue Bauweisen getestet werden können, ohne sofort an überbordenden Vorschriften zu scheitern.
Innovation statt Subvention
Szeidl plädierte auch für einen klaren Kurswechsel in der Förderpolitik: „Subventionen sind immer Wettbewerbsverzerrungen. Aber Innovationen brauchen Anreize.“
Er forderte gezielte Innovationsförderung – etwa für serielle Sanierung, digitale Verfahren und neue Materialien – statt pauschaler Zuschüsse für einzelne Technologien. Andere Länder seien hier deutlich weiter, sagt Szeidl, und verweist auf den internationalen Innovationsdruck, dem sich auch die deutsche Bauwirtschaft stellen müsse.
Die Erde kann ganz gut ohne uns leben. Wir kommen ohne die Erde nicht aus.
Steffen Szeidl
Zum Abschluss seiner Keynote machte Szeidl deutlich, dass kein Akteur die Bauwende allein bewältigen kann: „Es wird nur gemeinsam gelingen“, sagte er. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssten an einem Strang ziehen, um nachhaltiges Bauen und Wohnen Realität werden zu lassen.
Dass dieser Anspruch mehr ist als ein theoretischer Impuls, zeigt Szeidls beruflicher Hintergrund: Als Vorstand von Drees & Sommer SE treibt er seit Jahren die Transformation der Bauindustrie voran. Fachmedien beschreiben Szeidl als eine der prägenden Stimmen der Transformation in der Bauwirtschaft.
Fazit: Steffen Szeidl fordert ein neues Denken im Bauen – weg von kurzfristigen Gewinnen, hin zu Verantwortung, Innovation und Kreislaufwirtschaft. Oder, wie er es selbst formulierte: „Wir müssen die Erde nicht neu erfinden. Aber wir müssen sie endlich ernst nehmen.
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