Wer ganz oben, direkt am Pferdeturm, Hannovers Abfahrt vom Messeschnellweg, im obersten Stockwerk des Hochhauses aus dem Fenster schaut, sieht weit. Sehr weit. Der Blick aus dem Konferenzraum der Kanzlei activelaw reicht über die Dächer der Stadt und darüber hinaus.
Ein weiter Blick, der an diesem Abend symbolisch steht für das, was im Konferenzraum passiert: eine Diskussion, die den Rahmen sprengt. Transatlantisch. Europäisch. Zukunftsgewandt. Rund 50 Gäste sind gekommen, um bei dieser Veranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft Antworten zu suchen auf die Frage, wie Deutschland und Europa mit einer Welt umgehen sollen, die sich rasant verändert.
Der USA-Experte Josef Braml, seit Jahrzehnten einer der schärfsten Beobachter amerikanischer Außen- und Wirtschaftspolitik, gibt den Gästen eine klare Diagnose mit auf den Weg: „Wir leben jetzt in einer anderen Welt.“
Diese neue Weltordnung ist, wie Braml ausführt, geprägt von geopolitischen Rivalitäten, wirtschaftlichen Machtspielen und einer bröckelnden Verlässlichkeit transatlantischer Beziehungen. Europa, so seine Kernthese, muss sich auf eine Zukunft einstellen, in der es sich selbst schützen und selbst finanzieren kann. „Wir werden nicht nur von Russland, sondern auch von China und selbst von unserer ehemaligen Schutzmacht bedroht. Braml allerdings neigt nicht Alarmismus, er zeigt auch konkrete Lösungswege auf.
Warum Europa Geld aufnehmen muss – gemeinsam
Seine Forderung ist deutlich: Europa braucht eine gemeinsame Schuldenpolitik. Nicht aus ideologischen Gründen, sondern um politischen Schaden abzuwenden. Denn wenn Sicherheit nur durch Einschnitte im Sozialstaat finanziert werden könne, würden antieuropäische Kräfte gestärkt. Braml warnt: „Das würde die antieuropäischen Parteien noch stärker machen.“
Zugleich sieht er eine historische Chance: Die Welt verliere das Vertrauen in den Dollar. „Sie brauchen einen neueren, sicheren Hafen. Und das sind Euro-Bonds oder wie auch immer man das nennen könnte.“
Braml beschreibt eine USA, die sich in innenpolitischer Unsicherheit und wirtschaftlichem Protektionismus verliert: „Wirtschaft wird als Mittel zum Zweck eingesetzt, nicht mehr Freihandel ist das Ziel, vielmehr wird die Wirtschaft ein Mittel zum geostrategischen Zweck.“ Das gilt für Zölle. Für Technologiepolitik. Für die Rivalität mit China. Und für einen möglichen Präsidenten Trump, bei dem Braml keine Entwarnung sieht. „Ich befürchte, das wird noch sehr viel härter.“
Niedersachsens Wirtschaftsminister Grant-Henrik Tonne, ebenfalls Redner an diesem Abend, sieht die aktuelle Lage mit einer Mischung aus Realismus und Pragmatismus. Er warnt davor, den Eindruck einer ausweglosen Lage zu kultivieren: „Wir dürfen jetzt nicht dieser sehr einfachen Lesart zu erliegen, dass wir eigentlich nur noch miteinander depressiv werden können.“
Stattdessen müsse man die Zeitenwende ernst nehmen, Strukturänderungen akzeptieren und neue Wege gehen: von Südamerika über Afrika bis zum Westbalkan. Niedersachsen tue das bereits, sagt er – mit neuen Handelsbeziehungen, einer eigenen Rohstoffstrategie und entschlossener Infrastrukturpolitik. „Was wir nicht brauchen, ist eine Verdoppelung von Hoffnungslosigkeit“, sagt Tonne.
Er setzt auf konkrete Projekte und Ausgaben: „Wir werden in den nächsten Jahren 1,8 Milliarden Euro zusätzlich einsetzen.“ Für Straßen, Brücken, Häfen, ÖPNV und Wohnungsbau. Und er fordert eine neue Haltung: weniger Angst vor Fehlern und mehr Mut zu Entscheidungen.
Wenn es um die praktischen Folgen der US-Zölle geht, bringt Tilman Brunner von der IHK Hannover einen sachlichen Blick in die Debatte. Der Leiter der Abteilung International ist sicher: Es gibt Belastungen – aber auch Spielräume. 80 Prozent der Unternehmen könnten die Kosten durch die Zölle an ihre Kunden weitergeben. Die übrigen 20 Prozent stünden jedoch vor realen Problemen – Rückgänge im hohen einstelligen Prozentbereich seien wahrscheinlich.
Was wir nicht brauchen, ist eine Verdoppelung von Hoffnungslosigkeit.
Grant Hendrik Tonne
Vor allem aber fordert Brunner aber auch pragmatische Handelsabkommen. Dazu müssen wir das eigene Vorgehen ändern. Denn: „Wenn wir gleichzeitig mit der Welt Handel treiben wollen und sie gleichzeitig belehren wollen, dann funktioniert das nicht“, sagte der IHK-Experte.
Als Beispiel nennt er das Mercosur-Abkommen. Jetzt gebe es die Hoffnung, dass dieses Abkommen mit südamerikanischen Staaten zur nächsten Hannover Messe abgeschlossen werden könne. Begonnen hätten die Verhandlungen allerdings im Jahr 2004. „Das geht nicht“, sagt Brunner.
Die Quintessenz des Abends: Europa muss sich selbst ernst nehmen
Im Raum über den Dächern Hannovers wirkt dieser Abend wie eine Art Standortbestimmung. Europa steht zwischen alten Gewissheiten und neuen Realitäten. Zwischen Anspruch und Abhängigkeit. Was es jetzt braucht, ist ein weiter Blick – ähnlich wie an diesem Abend in Hannover – und ein konsequentes Handeln.